Donnerstag, 1. Januar 2015
Eins (Wintermärchen)
Solminore,
20:34
Nach langer Zeit ist über Nacht wieder Schnee gefallen. Alle Wege im Schnee ähneln einander, alle Stunden, die man im Schnee geht, sind gleich. Es gibt eine Stelle überm Feld, wo Erde und Himmel genau die gleiche Farbe haben, so daß eins ins andere hinauf und hinab sich löst. Indem der Wald wie von einem träumenden Kind erdacht erscheint, liegt die eigene Kinderzeit umso weiter zurück, je sichtbarer sie wird in den bleichen Mützen und Hauben auf den Zweigen, in den schwarzen Bachläufen, im eisigen Zucker, den die Morgensonne streift. Ein Waldsaum steht unerreichbar nah überm Schlittenhügel. Wolle verklebt von Eisklumpen. Alleinsein heißt: Das eigene Leben so deutlich überblicken, daß der Beginn verloren scheint. Eine Ahnung, wie es wäre, wenn alles geblieben wäre, wie es war. Als könnte es immer so bleiben: so still wie über einem schneebeckten Feld, für immer jetzt. Ein Zweig im Schnee überträgt das Zittern des Windes in eine Bewegung, die aus der Linie der Dinge weiterführt ins Auge selbst. Der Schnee zittert, der Bach fließt auf der Stelle, ein Büschel Laub vibriert. Der Stillstand der Dinge kostet die Ruhe des Blicks. Die Spur eines Wildes verbindet ein scheues Hier mit dem verlorengegangenen Fluchtpunkt eines fernen Dort. Die Abdrücke sind völlig regelmäßig, die exakt getakteten Mulden scharfrandig eingestanzt, als habe jemand die Schneedecke mit der Maschine zugenäht. Wo die Spur endet, liegt ein abgebrochener Ast im Schnee, wie eine Schranke zwischen zwei unüberbrückbaren Teilen desselben Orts. Es ist, als habe so ein Ast immer schon an genau so einer Stelle gelegen. Nun aber nähert man sich von der anderen Seite der Jahre, und jeder Winkel ist immer das gleiche Diesseits, das nurmehr verweist auf etwas anderes, auf eine andere Zeit, die den Märchen noch benachbart war. Wenn der Schnee durch einen Sonnenstreif stäubte, wenn ein Vogel sich vom kristallinen Wipfel einer Föhre ins Licht emporwarf, wenn die Sonne plötzlich im Eis eines Baches aufblitzte, während sich nichts oder doch etwas regte in der stillen Tiefe eines gefrorenen Waldes: war alles möglich. Damals begegnete Pelleas seiner Geliebten noch in den Wäldern, sang Melisande ihr Lied, Winter für Winter. Ein Wild sprang davon. Ein Ast brach von einem Baum. Die Orte aber, wo alles beginnt, sind nicht mehr. Weil man ihn als Anfang denkt, liegt aller Anfang immer schon vorher, wie weit man auch zurückgeht, in den Tiefen der Zeit wie in den Tiefen der Liebe verborgen, ein Fluchtpunkt, den das Herz niemals erreicht. ... Comment |
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Last modified: 06.02.20, 10:44 Status
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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
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