Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Samstag, 16. Mai 2015
Hundertsechsunddreißig (Türen)

Jede Tür mit ihrer eigenen Art
Dunkelheit im Anschlag.

Eine Dunkelheit aus geschmolzenem
Wachs hinterm Kirchenportal. Stufen,
die ihr Licht an der Säule abgeben,
ehe sie es eintauschen für Kerze
und Buntglas.

Hoftore mit ihren felsigen
Jahrhunderten im weiten
Ärmel. Wo das Licht geduldig
im Schlamm wartet, glitzern
Schäben wie Schweiß in der Luft.
Regsam arbeitet das Dunkel
hinter dem geschundenen Stein.

Eine Tür im Amtsgebäude, der Spalt
wie ein Finger vor den Lippen.
Die Klinke ruht in ernstem
Schimmer wie ein Paragraphenzeichen
vor dem Gesetzestext.

In manchen Schlüssellöchern
könnten Vögel nisten, so winzig
sind sie, so versteckt, so verlassen
an ihrem luftigen Ort vor dem Speicher,
benachbart den Glocken.

Nicht offen, nicht geschlossen,
unentschieden zwischen zwei
Gedanken, die Tür, die den Abschied
sah in der Morgenfrühe. Jetzt steht
sie offen den Fliegen und Spinnen.

Gegenüber das helle Fenster, darin
die Frau, die sich zügig auszieht, dann
verschwindet hinter der Tür, die nun
mehr weiß als alle Beobachter. Stumm bewacht sie
das Licht im verlassenen Zimmer.

Der Eingang zur Kellertreppe, wo der schwache
Lampenschein sich erst bücken muß und dann feige
zurückbleibt, kaum daß die erste Stufe
heraufspringt: Als habe sie tagelang auf der Lauer
gelegen hinterm Bretterverschlag,
wie eine steinerne Schlange.

Und die Türen im Hotelzimmer, Tür an Tür
in einer fremden Stadt voller Türen, wissen
von nichts. Abends neigen sie sich im kalten
Rahmen wie eine müde Stirn. Wächter
verpfändeter Zeit. Im Pol der Angel
wendet sich der kurze Tag zu wieder einer,
zu einer niemals erreichten Tür: Für eine
Nacht bist du mein.

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Last modified: 06.02.20, 10:44
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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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