Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Dienstag, 6. Januar 2015
sechs (Epiphanias)

Ohne Vertrauen in sie betrachten wir kritisch die Dinge.
    Voller Vertrauen in uns schauen die Dinge zurück.

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Montag, 5. Januar 2015
Fünf (Morgengrauen mit Tieren)

Der Schlaf war kurz. Ich ging
hinaus und schlüpfte
der Nacht in den langen Ärmel.

Wie ein verschütteter Tropfen
Milch stürzte der Mond
über den Himmel. Pferde
waren da auf einem frühen

Abhang, weiß und flaumig
wie ein Gedanke, der dem Schläfer
im Morgengrauen einfällt.

Als ich herantrat, sah ich: Es waren
gar keine Pferde. Es waren riesige
Schnecken. Mit den schillernden

Flügeln schlagend, erhoben sie sich
leicht in die Lüfte und
schwebten lautlos davon.

Da zog auch ein Sprung
Rehe, scheu wie Küsse, vor dem Waldsaum
vorüber. Sie achteten meiner nicht,
denn ich war es ja, der
sie träumte. Sie gingen
auf menschlichen Füßen, ich dachte

einen heimlichen Gedanken, den ich
vor mir selbst gut
verborgen wußte. Wie aber

erschrak ich, als ich sah,
daß alles, was ich nur
dachte, leuchtende Kondenstreifen
an den Himmel schrieb.
Wenn ich aber in meinem
eigenen Traum spazierenging,

wo aber war ich dann selbst? Endlich
fand ich eine spiegelnde
Pfütze und blickte hinein. Aber ich sah
mich nicht, ich schaute

auf den Scheitel eines, dessen
Blick zur Erde gerichtet war und
nach der Tiefe des Wassers ging.

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Sonntag, 4. Januar 2015
Vier

Der Mond schämt sich seiner Blöße nicht. Im Dunkel des Gartens gräbt ein Maulwurf nach einer entwendeten Sternschnuppe.

Wo der Himmel ausgeht, beginnt das Abendreich der Vögel. Der Horizont scheut sich, weitere Fragen zu beantworten.

Ins Leere lachen alle Wörter. An einer vor Tag verpuppten Stunde geht die Zeit grübelnd vorüber.

Schlaf fällt wie ein Komet auf den Acker. Die Glocken zeigen ihre leeren Hüllen.

In der Faust des Abends zerknittert ein ferner, blauer Baum wie ein vergebens gebrülltes Wort.

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Samstag, 3. Januar 2015
Drei (Wale)

Am Abend, als der Nebel bis ans Haus gestiegen war, sah ich sie. Ganz plötzlich waren sie erschienen, ganz ohne Laut.

Ihre tonnenförmigen Leiber tollten in den Zweigen der kahlen Bäume und umkreisten einander spielerisch. Mir wurde ganz froh ums Herz, als ich sah, wie eins das andere freundlich mit der riesigen Schnauze stupste.

Bei alledem machten sie nicht das geringste Geräusch. Nebelfarben getarnt und scheu wie sie waren, hätte ich sie fast übersehen, wenn nicht ihr lebhaftes Spiel um die Baumgerippe immer wieder sachte Wellen durch die Dünste geschickt und zu mir ans Fenster gesandt hätte.

Es waren Wale. Eine ganze Herde: Gleich schlanken Fesselballons aus feiner Gaze waren sie herbeigeschwebt, und die mächtigen Fluken wedelten und zogen anmutige Wirbel durch die Lüfte. So hinterließ jedes eine dunstige Spur, die eine Weile dem Nebel eingeprägt blieb, um sich mit den Spuren seiner Artgenossen zu überkreuzen und flimmernde Muster zu bilden, ehe sich die Wellen langsam glätteten und in die Dunstschwaden hinein auflösten.

Ruhig strömte der Blas aus den Atemöffnungen und vermischte sich mit den Schleiern des Winterhauchs. Wenn die Tiere sich anmutig wälzten, flog ein grauer Schimmer über ihre dünne Haut, und ich konnte genau erkennen, wie in ihren zarten, fast durchsichtigen, von sanftem Leuchten erfüllten Körpern die filigranen Herzen aus Salz leise pulsten.

Wie gern hätte ich ihr Spiel länger betrachtet und mich selbst darüber ganz und gar vergessen! Aber dann war ich wohl unvorsichtig. Vielleicht habe ich geblinzelt, oder es war die volle Stunde, die schlug und mich ablenkte. Oder mein Herz hatte zu laut geschlagen für ihre feinen Seelen. Mit einem Mal waren sie wieder verschwunden, lautlos wie sie gekommen waren, und als ich wieder hinsah, glättete sich soeben der letzte Wirbel einer Fluke und löste sich vor meinen Augen in Nacht auf.

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Freitag, 2. Januar 2015
Zwei (Verschlafen)

Verschlafen! Und nun
mit dem linken Fuß
über die Schatten
gestolpert, das Herz
wie ein aus dem Takt
geratenes Metronom.

Die Träume krallen sich an der Bettdecke
fest. Das Haus schlägt
mit Türen nach mir. In der Küche
hat sich die Nacht versteckt
vor dem Licht. Ich blinzle

argwöhnisch die gerissene Tasse an,
reibe mir Kerzendochte
ins Auge, klatsche
den Uhren die Sekunden vor.

Die Lichtschalter halten sich
verborgen. Mucksmäuschenstill
kauern die Monster unterm Bett.

Ich kenne euch doch, murmele ich, packe
den Spinnenfaden und
ziehe den Tag vors Fenster.

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Donnerstag, 1. Januar 2015
Eins (Wintermärchen)

Nach langer Zeit ist über Nacht wieder Schnee gefallen. Alle Wege im Schnee ähneln einander, alle Stunden, die man im Schnee geht, sind gleich. Es gibt eine Stelle überm Feld, wo Erde und Himmel genau die gleiche Farbe haben, so daß eins ins andere hinauf und hinab sich löst.

Indem der Wald wie von einem träumenden Kind erdacht erscheint, liegt die eigene Kinderzeit umso weiter zurück, je sichtbarer sie wird in den bleichen Mützen und Hauben auf den Zweigen, in den schwarzen Bachläufen, im eisigen Zucker, den die Morgensonne streift. Ein Waldsaum steht unerreichbar nah überm Schlittenhügel. Wolle verklebt von Eisklumpen.

Alleinsein heißt: Das eigene Leben so deutlich überblicken, daß der Beginn verloren scheint. Eine Ahnung, wie es wäre, wenn alles geblieben wäre, wie es war. Als könnte es immer so bleiben: so still wie über einem schneebeckten Feld, für immer jetzt.

Ein Zweig im Schnee überträgt das Zittern des Windes in eine Bewegung, die aus der Linie der Dinge weiterführt ins Auge selbst. Der Schnee zittert, der Bach fließt auf der Stelle, ein Büschel Laub vibriert. Der Stillstand der Dinge kostet die Ruhe des Blicks.

Die Spur eines Wildes verbindet ein scheues Hier mit dem verlorengegangenen Fluchtpunkt eines fernen Dort. Die Abdrücke sind völlig regelmäßig, die exakt getakteten Mulden scharfrandig eingestanzt, als habe jemand die Schneedecke mit der Maschine zugenäht.

Wo die Spur endet, liegt ein abgebrochener Ast im Schnee, wie eine Schranke zwischen zwei unüberbrückbaren Teilen desselben Orts. Es ist, als habe so ein Ast immer schon an genau so einer Stelle gelegen. Nun aber nähert man sich von der anderen Seite der Jahre, und jeder Winkel ist immer das gleiche Diesseits, das nurmehr verweist auf etwas anderes, auf

eine andere Zeit, die den Märchen noch benachbart war. Wenn der Schnee durch einen Sonnenstreif stäubte, wenn ein Vogel sich vom kristallinen Wipfel einer Föhre ins Licht emporwarf, wenn die Sonne plötzlich im Eis eines Baches aufblitzte, während sich nichts oder doch etwas regte in der stillen Tiefe eines gefrorenen Waldes: war alles möglich.

Damals begegnete Pelleas seiner Geliebten noch in den Wäldern, sang Melisande ihr Lied, Winter für Winter. Ein Wild sprang davon. Ein Ast brach von einem Baum. Die Orte aber, wo alles beginnt, sind nicht mehr. Weil man ihn als Anfang denkt, liegt aller Anfang immer schon vorher, wie weit man auch zurückgeht, in den Tiefen der Zeit wie in den Tiefen der Liebe verborgen, ein Fluchtpunkt, den das Herz niemals erreicht.

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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