Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Donnerstag, 15. Januar 2015
Fünfzehn (Morgen)

Leise zerschellt die Nacht am Kirchturm.
In einer Mauer ziehen Spinnen
die Zeit zu neuen Stricken aus.
Demütig kehrt der milde Schatten
zu seiner Stunde zurück, wo Feld um Feld
aus dem Schlaf der Erde steigt.
Zwischen zwei Nachtgedanken
lösen sich die schwarzen Pfade auf.
Die Kiesel schlüpfen aus den Tagesnestern.
Leise zupfen sie am Licht.
Von einer Esche hängt die wilde
Weinranke wie ein Glockenstrang.

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Mittwoch, 14. Januar 2015
Vierzehn (Sturmhaus)

Ich hab mir ein wildes
Haus aus Sturm gebaut. Dort mal
ich die Gedanken der Eule ins Fenster.

Wenn ich die Schnecken ausführe,
lasse ich die Nacht
aus meinem Stiefel trinken.

Aus einer Schlafwurzel
ziehe ich eine spiegelnde Scherbe.
Damit ritze ich haltbar
meine Wünsche in die Luft.

Ich flechte mir ein Zelt
aus den Fäden des Schlafspeichels.
Dort haben verstoßene Monde bei mir Asyl.

Ich hab mir in den Wind
eine brausende Höhle gegraben.
Beim Schein des Irrlichts les ich
die Zeichen, die mir der Schilfsaum schrieb.

Ich will mir einen Keller aus dunklen
Pfaden bauen. Dort führe ich heimlich
meine Hoffnung spazieren.

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Dienstag, 13. Januar 2015
Dreizehn (Am Bahnhof)

Zwischen den verspäteten Zügen
kehren die Sterne an ihre
Plätze zurück.

Wo der Horizont brüchig wird,
brennt die Mitternacht Fahnen ab.
Der Lautsprecher reißt den Schlund auf
und schweigt. Reihum
belauern die Uhren einander.

Mit gelbem Zahn nagen die Scheinwerfer
an dem Pfeiler, wo zwei sich
trafen vor Jahr und Tag.

Meine Tasche ist voll dunkler
Feigen. Damit löse ich beim fröhlichen Bettler
meine silberne Schuld Hoffnung.

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Montag, 12. Januar 2015
Zwölf (Scheune)

Jedes Mal, wenn ich an der alten Scheune vorbeikomme, ist sie ein bißchen weiter eingefallen. Erst sank das Dach ein. Dann strömte eines Tages Licht ungehindert zwischen die vier Wände. Die Tür fehlte im nächsten Frühjahr. Sie war einfach nicht mehr da, als habe sie beschlossen, aus den Angeln zu steigen und fortzugehen. Im Herbst waren mehrere Bohlen aus der Wand gebrochen. Beim letzten Mal herrschte Schneetreiben, da bestand das Gebäude nur noch aus Umrissen, ein grauer Schatten hinter weißbebänderter Luft. Ein Ort, wo der Wind vielleicht ein bißchen nachließ, kaum merklich. Mag sein, man wird das nächste Mal durch den Schatten hindurchlaufen können. Die Luft wird sich noch eine Weile an das Hemmnis erinnern und es als sanftes Widerstreben weitergeben; das Licht wird vielleicht dort kurz zögern, wo einmal die Wände waren, und dann ins Gras fallen; ein letztes Echo wird noch dem Hall einer Bretterwand nachlauschen, und eine betagte Hummel einen Umweg fliegen. Das Holz aber wird Zelle für Zelle seine Substanz in Äther verwandelt haben, ein feines Fossil aus Luft. Dann wird der Wind sich heimisch fühlen in den eigenen vier Wänden.

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Sonntag, 11. Januar 2015
Elf (Eiserfey)

Unter dem Berg wohnt der Sturm.
Nachmittags kommt er
heraus und setzt seinen beschwingten
Fuß in die Täler. Der Wind zieht
das Vergessen aus dem Bach und gräbt
Stein um Stein aus dem Acker.
Er zerrt an Wegen und Stiefeln
und an Braue und Blick. Er wispert
und brüllt, daß es mir Sprache
verschlägt und Gedanken. Fahnen
lösen sich vom Mast. Dann löst
sich der Mast aus der Erde. Ein Rabe
verliert seinen Halt am Himmel.

Schon stimmt der Pfad nicht mehr,
schon flattern die Hügel an straff
gespannten Leinen. Ich ziehe
die Karte aus der Tasche, da

reißt es mir gleich das Blatt
aus den Händen, und ich kann
nur noch zusehen, wie sie
davonwirbeln, die Hügel
mitsamt den Höhenlinien, die Flüsse
und Bäche, die filzigen Wälder,
die Täler mit ihren Mühlen und
die verhedderten Wege mit
ihren Zeichen und Symbolen allesamt.
Selbst schon schwankend
greife ich mir gerade noch ein Wort
aus dem Sturm und suche Schutz
im Windschatten beharrlicher Verse.

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Samstag, 10. Januar 2015
Zehn (Ruine)

Lange sind alle Stimmen verstummt,
der Wind feilt noch am Echo.
Disteln blauen am Kalk. Im Kabuff
hockt verschreckt der Raum
mit einem Fuß halb im Freien.
Jetzt liegt ein weiter
Horizont quer in der Tür, und der Wald
steht auf der Schwelle mit Zapfen
und Harz. Durch das Dach
stürzt der Himmel mit Geklirr
in den Herd. Bis in den kleinsten
Winkel kostet das Licht
seine Freiheit aus. Was vom Dunkel bleibt,
frißt mit Bedacht ein knorriger Uhu.
Norden und Süden geben einander
im Hoftor die Hand. Wo der Treppenabsatz
endet, beginnt das Stockwerk der Wolken.
Vogelaugen brechen sich
in einer Spiegelscherbe. Die Wände
haben sich alle zur Wand
gedreht. Schließt man dem Wind
die Tür, ist er immer schon drin.
Regen wohnt jetzt im Keller,
gleich neben einer greisen
Erinnerung an trippelnden Kinderschritt.
Hier ist keine Heimstatt mehr
für Spinnen, die Asseln
sind schon mit dem Silber
geflohen. Kein Geist wohnt mehr unter
der verwaisten Treppe, in leeren
Fensterhöhlen schießt die bunte
Ferne ins Kraut.

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Freitag, 9. Januar 2015
Neun (Laacher See)

Gebändigt von den Stiefeln
der Berge, tobt das gefangene
Meer in seinem schmalen
Käfig aus Sand. Entwurzeltes
Wasser, Unterstes nach oben
gekehrt. Dein Fuß steht
fest neben meinem.

Später, auf einer Bank, das Gesicht
zum Himmel gewandt, wipfelwärts, wo
die Stürme wohnen. Unsere Hände
teilen sich die Wärme
einer Manteltasche.

Die Luft rollt den Waldgrund auf. Vögel
verwandeln sich in treibendes Laub
und wieder zurück in Vögel, so

wie dein Mund eben, am Ufer,
sich in Wellen, und die Wellen wieder
zurückverwandelt haben
in deinen wilden Kuß.

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Donnerstag, 8. Januar 2015
Acht (Erinnerungen)

An einem alten Stiefel hakt
sich die schwache
Strömung von Borke fest.
Löß gerinnt zu Botschaften,
wedeln von Haarzeichen
im Wams. Wolle spinnt
sich zu Runen aus, ein Wort
bleibt knirschend zwischen den Zähnen

hängen. Stumm hornen die hellen
Serifen der Mitternacht. Beharrlich knoten
die Hecken einen Traum zusammen, ein Strick
krümmt sich jäh zur Schlange am hohlen Weg.

Stunden eines Januars, abgewetzte
Klauen, Rost sickert aus den Wolken
ins Laub. Die Nacht knarzt wie
ein alter Schrank, gefüllt mit dem Staub
vergilbter Sonnenwenden.

Geschliffenes Wasser schlägt geduckt
an einen tauben Stamm. Wo
ein Stern die Eisfläche zerschneidet, wartet
eine Erinnerung auf blutige Beute.

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Mittwoch, 7. Januar 2015
Sieben (Heute)

morgen haben wir gestern
gesagt und jetzt ist
was wir meinten heute
nur die falsche
Seite von heute die
wo du nicht mehr bei
mir bist du so
schön gewesen in
deinen Mund bin ich
gekommen bist du viele
Male von meinem
Mund auf so viel
Haut und alles deine müde
sagst du doch warst so
wach zu mir wann
kommst du wieder in
zwei Tagen wenn wieder
heute ist für unseren
Kuß schnell denk ich mir
ein Wort man muß
es leise sprechen nur
einmal ins Ohr wenn
man das richtig
macht hebt es die
Zeit aus den Angeln und
es ist wieder die
richtigen Seite von
heute und du bist
wieder da.

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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