Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Montag, 10. August 2015
Zweihundertzweiundzwanzig (Reiher)

Wie ein greiser Anwalt vor
den mächtigen
Akten eines schwierigen
Falles starrt
der Reiher in den Strom

Geduldig und tückisch sucht
er nach der Lücke im Text
des Lichts, wo

das Wasser sein dunkles
Geheimnis verbirgt

Mit der Klaue unter den
Federn hält er Beweisstücke
fest

denkt mit strenger Stirn
Hieroglyphen aus Mondlicht
ans die Leinwand der Hügel

Noch in der Dämmerung harrt
er aus, in steifes Blau gekleidet,
bis sein Buckel
mit den Ufersteinen verschmilzt

In seinen Träumen berührt
er manchmal mit den Schwingen
die Ränder der Dunkelheit, und

die Nacht schlägt Wellen
um seinen befreiten Leib

Nie hat ihn
ein Angestellter, nie
der Gerichtsdiener so
fliegen sehen

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Sonntag, 9. August 2015
Zweihunderteinundzwanzig (Bilder einer Ausstellung)

Als wir wieder einmal ausgebüxt
waren von Mann
und Frau, sind wir in ein Museum
gegangen, man zeigte
Porträts, lauter stumme Gesichter.
Den strengen Gelehrten, mit einer
Stirn, so hell und
blank wie ein Altar;
die alte Frau trug Falten
in ihrem Gesicht, dunkel
wie Ackerfurchen; einen grübelnden
Geistlichen mit Zügen wie
gespaltenes Urgestein;
einen Kaufmann mit Manschettenknöpfen, die
wie Rüstungsscharniere schimmerten;
eine Bürgersfrau, bis unters Kinn
mit Pflichten bekleidet.
Zwei Mädchen, so jung, daß es war, als
stünden sie in einem Spiegel, der sie
erst noch zum Urbild ins Licht
entwerfen mußte; so schwebten sie
in den Tümpeln ihrer eigenen Augen.
Gleich daneben ein junger Bursche
mit Gewehr, den Tod als geheimen
Rat hinter der Stirn.
Zuletzt eine ganze
Familie, zwanzig Personen, drei
Generationen, gleich einer Versammlung
großer Katzen, jeder aus einem
leicht verschobenen Winkel aus der Leinwand
zielend, jeder ein kleines oder großes
Geheimnis im Rücken.

Wir waren wie immer ein heimliches Paar,
für keinen um uns herum
Liebende, außer für uns. Niemand
kannte uns da, die andern Besucher
ignorierten uns, fanden uns wohl
komisch, der Wärter mahnte
zu mehr Abstand.

Wir aber
steckten die Köpfe vor den Köpfen
zusammen und ließen uns
von den Gesichtern anschauen,
ganz genau anschauen, bis
sie am Ende mehr wußten über uns
als wir selbst.

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Samstag, 8. August 2015
Zweihundertzwanzig (Wind am Meer)

Mit nur
einem Vogel als
Stütze lehnt
sich der Wind über
die Klippe

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Freitag, 7. August 2015
Zweihundertneunzehn (Kornfeld)

Ich habe nichts gesehen,
und auch nichts gehört, nur
das Getreide hat gewackelt,
bis in die Fingerspitzen
der Ähren hinauf wackelte es,
bebte, beunruhigt und
geschäftig zugleich, wie ein
suchendes Tier, ehe es zitternd
nach seiner Mitte
ausschwang und eine große
Ruhe fand in seinen eignen
wurzelhaften Ordnungen, wo alles
still war, kein Lachen,
kein Wort, nicht einmal
das Grannen zirpten, kann sein,
ein Halm hat einmal
ganz kurz geknackt.

Ich habe nur gesehen, wie
später ein Vogel erschreckt
aufflatterte aus der
Erzählung der Ähren, eine
Ammer oder eine Lerche,
einen Kreis beschrieb und dann
verschwand, lautlos
auch sie, vom Himmel aufgesogen
wie ein Fleck Tinte im Löschblatt.

Und wie die beiden später
davongingen, auf getrennten
Pfaden, ein jedes
beschwingt von
seinem Teil des Geheimnisses.

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Donnerstag, 6. August 2015
Zweihundertachtzehn (Heliotrop)

Die Sonnenblume
rollt Licht
vor den Hof

Nach Süden wendet sich
jedes Tor zum

Horizont da
schlagen die Winde
Rad

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Mittwoch, 5. August 2015
Zweihundertsiebzehn (Nacht im Wald, zweifach)

Das Zelt macht Platz
für zweimal Kopf
bis Fuß, wir teilen

uns im Sturm
jedes einen halben
Schlaf, genug
und übergenug für alle
geteilten Träume.

Es steckt sich gut
unter nur einer Decke, es

liebt sich keusch, wie uns
der klamme Sommer bettet.

Den Kaffee trinkt man schöner
zu zweit aus derselben Tasse.
Zwei Krümel Salz zum
Frühstück machen die
Küsse fett, die schmecken
ungeputzt.

Der junge Tag reicht gerade
von deiner
Hand zu meiner und

jeder Schritt hallt eine
doppelte Ewigkeit nach

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Dienstag, 4. August 2015
Zweihundersechzehn (Distel)

Als hätte das Licht
Schorf aus der Tiefe
des Bergsees gekratzt

schließt sich die Distel
um ihre blühende Wunde

Mit den Stacheln zielend
ins Herz der Farbe Blau

Die Schönheit verkapselt
unter sprödem Schmerz

wie das karge Geschlecht
unterm Habit der Nonne

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Montag, 3. August 2015
Zweihundertfünfzehn (Mond & Made)

nach hellem Mondlicht
unter dem dunklen Felsen
sucht auch die Made

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Sonntag, 2. August 2015
Zweihundertvierzehn (Schwimmbad)

Der Zaun schaut nach den Rückseiten von Blicken,
durch Hecken schwebt das fahle Wasserblau,
gestreckt und schimmernd unter Wolkenstau,
an Bäumen lehnen Wege wie an Krücken.

Das Licht ist alt und hart von Muskelsträngen.
Ein Sprungturm bebt am Ende glatter Strecken.
Die Leiter zieht die Füße aus dem Becken.
Ein Winken geht hinauf zu leeren Rängen.

Auf grünen Fliesen keine Spur der Sohlen,
die übers Gras den warmen Mund getragen.
Das Erdbeereis vom Küssen wie besoffen,
die Lippen kühl. Ein Frösteln über Kohlen.

Und wohin jetzt? Der Parkplatz voller Wagen.
Der Sommer geht. Die Türen stehen offen.

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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