Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Mittwoch, 19. August 2015
Zweihunderteinunddreißig (Küssende)

Sie sahen einander so schüchtern
in die Augen, als balancierten sie
Teller auf dünnen Stäben

Nicht mehr die Jüngsten, die kleinen
Gesichter hinter den riesigen
Brillen süß wie braune, reife Nüsse.

Der Wein in den Gläsern
lachte wie ein dritter Mund,
kannte ihrer beider Lippen schon,
warm

legte er nahe, warb, flüsterte,
lachte wie Kinder im Strauch.
Da lachten sie beide auch und tranken
und bekamen purpurne Lippen
und lachten noch mehr davon.

Einmal nahm er ihre Hand, wie
etwas Weiches, Überraschendes,
das man im Dunkel findet. An ihrer
Schläfe bebte eine kleine
blaue Ader vor Aufregung
wie das Herz eines Vogels.

All ihre Erfahrung nutzte ihnen
nichts, als wären sie
abermals sechzehn.

Als sie sich endlich
küßten, waren die Gläser leer,
wie die Erinnerung an eine längst
geschehene Geschichte.

Sie küßten sich. Und es war,
als prüften sie mit spitzer
Zunge eine unbekannte Sprache, Wörter

deren Sinn ihnen erst aufgehen
mußte im Geschmack
der Silben, der Labiale und
Hinterzungenvokale, so

ungelenk, so tastend
so erstaunt übereinander
wie Jungvögel, wenn sie flügge
werden, über die Luft staunen,
daß sie trägt, nichts

begreifend, so sehr der Kunst
gewidmet, sich zu küssen,
als müßten sie mit gefesselten
Händen einen Pfirsich essen.

Und die schweren Brillen lagen
auf dem Häkeldeckchen, komplizenhaft
blinzelnd, wie Eltern, wenn die Kinder
beschäftigt sind mit wichtigeren Dingen.

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Dienstag, 18. August 2015
Zweihundertdreißig (Abend in Dersdorf)

Beflaggte Dämmerungen, Nester,
ich gehe ohne Zeugnisse, wenn
die Ödnis ein Knie an den Fluß
stemmt, wo das Feld ins Auge regnet.
In der Tasche vertrocknen lateinische Götter.
Kein Trumpf zu erwarten im Ärmel
der Nacht. Am Himmel die Blindenschrift
der Gänse, wie von unten
an Wasserflächen angeschlagen.

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Montag, 17. August 2015
Zweihundertneunundzwanzig (Seestück mit Leuchtturm)

Klippen, steil wie ein Auftakt
zum Dreiklang aus Heide
Sonne und Silbermöwe.

Zwei weiße Leiber in einer Mulde.
Windgeschützte Schatten. Die Lippen
wie frischgeschäumte
Näpfchen im Malkasten.

Später, am Mittag, Vögel, so weiß,
als trügen sie das Bild empor und
zeigten die Liebenden der Luft.

Wenn die Schiffe kommen, geht
der Tag. In der Mulde sammelt
die Hundsrose Farben.

Wie eine Fermate ruht der
Leuchtturm am Ende des Festlands.

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Sonntag, 16. August 2015
Zweihundertachtundzwanzig (Forst vor Morgen)

Die Nacht sträubt
sich gegen die
Nähe aller Gräser.

Kein Licht. In Rinnen
ballen Steine gegen
einander die Faust

Zu Stößen gebündelt
kaut die Dunkelheit
Kreide, einen Fuß
schon am Feld

In wäßrigen
Stiefeln stolpert der Weg
zu den erzenen Glocken
zurück

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Samstag, 15. August 2015
Zweihundertsiebenundzwanzig (Lore Ley)

Mit Sonnenbrillen starrt
die Uferpromenade ins Wasser

Möwen hacken
nach den zarten
Spiegelherzen

Die Sonne geht
über den Strom, tastet
blind nach Schiffen

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Freitag, 14. August 2015
Zweihundertsechsundzwanzig (Schafe, nachts)

Wo ein Hügel
sich aufrichtet
zur Nacht

Die Klammer der
feuchten Sterne
am silbernen Handgelenk

Aus dem Boden steigt
die dämmrige
Frucht von Glocken

Atmen von Fellen. Die schwarzen
Nüstern wohnen in
Luvseiten

Von der Hüfte
fressen die
Findlinge Gras

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Donnerstag, 13. August 2015
Zweihundertfünfundzwanzig (Am Telephon, morgens, wir)

Ein Wort das andre, wie wir immer reden.
Am Morgen sind wir beide übermüdet
am Telephon. Noch beide ungeschmiedet,
die Stirnen weich, wie wir mit unsren spröden,

ins Morgenblau verseiften Stimmen tasten.
Einander ziehend wie zwei ernste Ringer
zu Tag und Licht. Wie Hände ohne Finger
einander haltend, Flaggen ohne Masten.

Der Tag ist schön. Ich seh die Schwalben steigen.
Die Aster blüht. Am Zaun schimpft eine Meise.
Im Apparat halt ich dein kleines Schweigen.

Bist du noch da? Noch da, sagt jemand leise.
Nicht hier nicht da, noch wo. Die Tage neigen
sich ohne uns. Du schweigst. Die Schwalben kreisen.

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Mittwoch, 12. August 2015
Zweihundertvierundzwanzig (Nacht und Mohn)

Die große Nacht
bleibt

draußen wenn
die Mohnblüte

sich bei
sich selbst
einschließt

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Dienstag, 11. August 2015
Zweihundertdreiundzwanzig (Ernte mit Bremse)

Wie Bettler ihren leeren Teller
so hält die Hundspetersilie
ihre geöffneten Körbe empor.

Der Feldweg kracht
an die Säulen des Gewitters.
Die Hitze läuft auf Seife, wendet

im Schatten ihren Mantel um.
In den Steinen am Acker übt
der Donner das Schweigen.

Gleich einem schwarzen Heller
zahlt die Bremse, blüht
wie ein Zeichen aus Pech
auf der glatten Stirn des Schnitters.

... Link (0 Kommentare) ... Comment


Online for 3611 days
Last modified: 06.02.20, 10:44
Status
Sie sind nicht angemeldet
Main Menu
Suche
Calendar
November 2024
So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.
12
3456789
10111213141516
17181920212223
24252627282930
Januar
Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

RSS feed

Made with Antville
Helma Object Publisher