Zweihundertvierzig (Herbst am Kanal, früher)
An einem solchen Morgen wären Schiffe
vor vielen Jahren auf dem Strom gefahren.
Und überall Kanäle, Molen, Häfen
und Kräne, die im Nebel stehn wie Reiher.
An einem solchen Morgen wär das Stottern
der Schiffe kaum noch bis ans Haus gedrungen.
Die Sonne hätte wie verschnupft geklungen.
Der Tag in seinem Rock die Hand geborgen.
Verwackelt wäre alles Licht gewesen,
als sei dem Tag das Brillenglas zersprungen.
Die Ferne jedes Orts gelöst in Zuckerbrösel.
Ein Tag wie dieser hätte keine Worte
gehabt, für die mit Kinderaugen schauten.
Er wäre einfach Strom gewesen. Schiffe. Orte.
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Zweihundertneununddreißig (Eisvogel)
Ein Weg im Wald. In der Hand
ein altes Photo. Ein Kinderwagen,
gelb und gestrandet wie eine Badeente.
Schatten von Vögeln im papierenen
Himmel. Damals hat man, heißt es
einen Eisvogel gesehen. Das Wort
klingt nach uralten Märchen.
Du hättest ihn auch gern
gesehen, damals, so blau,
so zerbrechlich und eisig.
In der Erzählung wurde der
Vogel immer noch blauer und kühler. War er groß oder klein? Hatte er
eine Stimme, einen Blick?
War er alt oder jung? Wie auch immer
er war, du hast ihn verpaßt, damals. Alles ist plötzlich um Jahre
gealtert. Den Weg hättest du
vom Photo nicht wiedererkannt.
Die Wiese ist eingezäunt und winzig.
Im trockenen Bachbett spielt
ein Absperrband mit dem Wind. Reifenspuren, die nach ihrem Anfang
suchen, zerbrochenes Glas, verschnürter
Horizont. Der Himmel ist müde von Vögeln.
Keiner der Raben von damals
ist noch am Leben. Du drehst das Photo um.
Blindheit, stumpf hinter Lidern.
Laub strudelt dir um den Fuß.
War der Eisvogel flink oder langsam?
Saß er, blau und fremd, auf einem
Baumstumpf im Wasser? Flog er davon,
das Blau gespreizt unter Buchen? Du stolperst: Und ehe das Bild
dich auffangen kann, bist du wieder
einen Schritt weiter. Und weiter. Der Abend legt sich zwischen die Bäume.
Unter den Sohlen wird der Park klein.
Glocken ziehen zur Rückseite der Gegenwart.
Die Wege enden und fangen wieder von vorne an. War er fern oder nah? War er aus Federn
oder aus Eis? Wußte er, daß du ihn
nicht gesehen hattest? War er dunkel
oder hell? War er scheu? Fest steht,
er war anders. Alles, was du finden wirst, ist ein Bild
von ihm, in einem Bestimmungsbuch,
auf einer Infotafel, wo er klein ist
oder groß, blau oder eisfarben, wo er hockt
oder fliegt, ein Bild ohne Zweifel
von einem Eisvogel, ein richtiges und vielleicht
ein schönes. Niemals aber wird es der Erinnerung
gleichen an das, was du damals nicht gesehen hast.
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Zweihundertachtunddreißig (Einen Buchenschößling umarmend)
Die Inseln deines Mundes sind mir heilig.
Ich berge meine Zunge an Gestaden,
die schaumverwandt den Durst der Ströme löschen.
Ich lerne dunkles Lot aus deinen Augen.
Die Räume stülpen sich am Rand von Lippen
wie Horizonte sich an Ufern reiben.
Dein Atem ist ein Pelz auf meinen Felsen.
Wie Strandgut liegen Worte unter Blicken.
Ich kenne keinen Wald für deine Füße.
Ich kenne kaum ein Rot für deinen Mund.
Und was ich von dir weiß, reicht kaum zu Monden.
Ich lasse Dochte wachsen deinen Düften.
So bin ich Wein, der sich geleert zum Grund,
und fall mir aus der Hand ins Helle deiner Hüften.
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Zweihundertsiebenunddreißig (Schattenfluchten)
Mittags suchen die Schatten
Verstecke, klammern sich
an Bäume wie Kinder
an den Rock der Mutter. Unter Zäunen, glauben sie,
findet man sie nicht, oder
hinter den Büschen. Dabei ragt immer ein Zipfel
hervor hinter dem Telegraphenmast. Schwerlich können sie den Baum
erklimmen, und wenn sie sich noch
so schmal machen,
sie passen einfach nicht
in die Öffnung des Glascontainers. Frei, wie sie daliegen,
für alle zu erkennen,
halten sie sich selbst für unsichtbar
hinter ihren geschlossenen
Augen. Eben flieht, ja, flieht noch einer am Rockschoß
des Raben, der sich erhebt
zum schattenlosen Himmel überm Feld.
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Zweihundertsechsunddreißig (Kinderlärm)
Sie lärmen über die Straße, die ganz
ihnen gehört. Garben aus Licht,
gequetscht unter den winzigen
Stahl der Stirnen. In Scharen
springen um sie her gleich Hunden die kleinen
Fäuste, kaum zu bändigende
junge Tiere. In den Vogelkehlen
drängen sich die Stimmen, vereint
zum Ruf in die Welt, der die Welt
zurückruft ins Staunen. Und das taumelnde Licht auf
den Scheiteln, froh
nicht fliehen zu müssen, schwebt
ganz leicht, wie auf Kaninchenfellen. Die johlenden Münder, blank
wie Nullen am schmalen Ende einer
unbekannt riesigen Zahl. In ihrer unbestimmten
Vielzahl verschwimmen
die Gesichter. Unwillig
sie schon gehen zu lassen
schauen die Schatten
ihnen nach. Doch ihre Augen schweben,
hart und glänzend von lauter
Anschauen, noch nicht festgeschraubt
in den schmalen Körpern,
wie springende
Kiesel über den Strom.
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Zweihundertfünfunddreißig (Stundenkreis mit Hahn und Wiesel)
Früh verflucht ein Hahn
den Morgen in der
Spange des ferngefärbten
Amsellichts. Die Rohheit brüllt, mit der sich
ein toter Baum in die Lebendigkeit
wirft, ringsum. Schnecken fressen am Maß
der Langsamkeit. In der Streckung von
Häherkristallen verlanden
winknah Buchenufer. Ein Wegekreuz taucht die Stirn zum Bach. Was die Kiefern
am Waldsaum wenden, gerät in die Fugen
der elften Einsamkeit, brach
liegend neben blutenden Wieseln.
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Zweihundertvierunddreißig (Kiesel bei St Goarshausen)
Ich klaube nach den Dunkelheiten
zu Felde. Herzscharf brechen Stock
und Stein. Kiesel sind ganz leichte
Falter hin zum Acker. Larven
der Farbe Weiß, in Schichten
aus Härtungen verpuppt. Flüge, die sich dem Wolkensog
verweigern in ihrem Beharren
nach Boden. Gemeinsame Anstrengung,
Mond zu sein. Erschöpfte
Schwerpunkte am Ende von Pendeln. Fett von Augen leuchtet der bewimperte
Acker. Die Steine knien zum Gebet. Das Feld
schaufelt Licht ins Licht. Distelstiche wiegen nach Grobsilber.
Auf meinem Heimweg glühen
in der Tasche die Härten
von Wüstensonnen.
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Zweihundertdreiunddreißig (Meßdorfer Morgen, Böschungen)
Die Hügel nippen nur vom Licht.
Die Steine schlagen Wellen, kreuz
und quer liegen die Atembögen der Krähen. Die Flaschen von gestern
saugen die Böschungsschwärze weg.
In den Vorgärten lästern die Fensterläden, indessen Dohlen Goldsicheln
aus dem Mark der Türme hacken.
Unter den Laternen Zuckerkrater. Wege raffen schon langsam
die Säume. Feuchte Kiesel sinken
heimwärts in die Pelzangst
zuckender Kaninchenmasken.
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Zweihundertzweiunddreißig (Reh)
Ein Reh flieht
in Netzen aus
Schatten leergefischt
von Blicken knackt blindlings
das Unterholz
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