Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Freitag, 26. Juni 2015
Hundertsiebenundsiebzig (Innere Orte; Meere)

Gleich hinter dem schwarzen Riegel des Waldsaums beginnt am Morgen das Meer. Wo die Luft blauer ist vom Widerschein der Tiefe, wo die Schatten sich auflösen in der Weite des Raums. Man sieht es in den Augen der von dort heimkehrenden Vögel, die dunkle Konzentration von Licht in der Tiefe ihres Blicks. Man merkt es an der Art, wie sie die Schwingen strecken. Die Hügel stehen abgewandt, mit dem Rücken zum Wasser, als wollten sie es nicht wahrhaben. Im Hof stehen die Schatten wie Wiederschein von Molen.

Das Meer liegt an traurigen Küsten im Herzen der Vögel. Es wartet geduldig am Ende von Glockenschlägen. Es schimmert morgens eine Handbreit neben dem Spiegel, und wenn du dich umdrehst, ist es nicht mehr da. Es ist so unerreichbar in Reichweite wie ein vergessener Kinderreim auf der Zungenspitze.

Es ist, als trügest du deine Blicke in den Hosentaschen herum. Die Wege flattern, das Licht ist wie Wind, der nach Kieseln greift. Möwenschreie machen dein Ohr zur Muschel.

In deinen Augen schwimmt Schilf. Wenn du sie schließt, bleibt der Schatten von Schiffen.

So viele Sprachen müßtest du lernen.

Das Meer aber ist wie Verse, in denen jedes Wort, das du je gekannt hast, verstummt.

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Donnerstag, 25. Juni 2015
Hundertsechsundsiebzig (Octavian; vom Lassen (4))

Wir wollten's nicht? Hast du mich je gefragt?
Du gehst. Hab ich ein Wort da mitzusprechen?
Ich wollte mit dir fliehn, du willst nun brechen.
Du weichst zurück für Sophie, ungefragt.

Ich fühl's, sie ist mir von dir zugewiesen
und ich in meine Schranken. Du bestimmst,
was für mich Glück und Liebe sei, und nimmst
das Recht dir raus, du dürfest für mich kiesen.

Du nennst es edel. Eine gute Tat.
Du findst es selbstlos, mir Sophie zu schenken,
gefällst dir noch darin, daß du läßt ziehen,

wo ich doch gar nicht ziehen will, dein Rat
ist fies. Doch glaube nicht, daß du mich lenken
kannst. Wenn du mich läßt, laß ich Sophien.

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Mittwoch, 24. Juni 2015
Hundertfünfundsiebzig (Octavian; vom Lassen (3))

Und doch, ich weiß: Die Marschallin wird älter.
Schon zieren Falten ihre hellen Augen.
Wie lange mag sie noch zur Lust mir taugen?
Auch ihre Glut für mich wird einmal kälter.

Noch werde ich sie je mein eigen heißen,
werd immer sein das fünfte Rad am Wagen.
Doch Sophie? Friede, Freude, Kinderwagen --
vor so viel Zukunft drängt es, auszureißen!

Ach laßt mich doch mit eurem Plan zufrieden!
Habt es euch so gedacht, mich und Sophien.
Mögt ihr euch, ich mag nicht mich selbst betrügen.

Ich sag euch, eure Ordnungen ermüden.
Ich will vor euren Planzukünften fliehen.
Ich wollte Liebe. Und soll Ehe kriegen.

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Dienstag, 23. Juni 2015
Hundertvierundsiebzig (Octavian; vom Lassen (2))

Will eigentlich auch mich mal jemand fragen,
wohin ich will, wohin mein Herz mich drängt?
Ihr haltet's schon für ausgemacht, ihr denkt
mir Sophie zu. Ich kenn sie seit drei Tagen,

indes die Marschallin seit einem Jahr.
Da weiß ich, was ich hab. Die hat Erfahrung.
Die weiß, was Spaß macht in der Paarung,
hat Glut im Schoß, bei Frauen, sagt man, rar.

Wer weiß, wie Sophie ist? Noch Jungfrau, prüde.
Was nutzt es mir, wenn sie so holde lächelt?
Mag sie im Mund mich haben, wenn ich spritze?

Die andre ist der Lenden Freud und Friede.
Ob diese auch so schön im Bette röchelt?
Es ist mir gleich, wenn ich auf jener sitze.

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Montag, 22. Juni 2015
Hundertdreiundsiebzig (Nachtwanderung, Kottenforst)

Kein Ohr blüht auf in der hörenden Nacht.

Dunkelheit streckt sich zur weiten
Stirnbahn zwischen zwei Arten

zu schweigen. Ein Reiher zwingt
die Dämmerung zum Tanz. Bäume
tragen Wasserzeichen.

Langsam wachsen Nachtwurzeln
ein in den geweiteten Blick. Der Wind trägt
die Gesichter davon, bis nur noch

die Augen bleiben wie unverwitterte
Nägel. Aus den Taschen wachsen
die Münzen zum Mond
wie schwebende Tümpel.

Ein alter Reimvers ruht noch entblößt,
wo das Schilfgras die Achsenruh

durchstößt. Auf dem Heimweg stechen
nasse Sterne im Schuh.

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Sonntag, 21. Juni 2015
Hundertzweiundsiebzig (Solstitium)

Früher als heute wirds nie, noch wird uns die Zeit je so günstig:
     Küß mich zuletzt noch so früh; später holt Spätes uns ein.

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Samstag, 20. Juni 2015
Hunderteinundsiebzig (Holunder, Knochenflöte, Mooskronen)

Schlaflos starrt der Holunder
die Frühe an.
Regen liegt brach, versiegelt unter
Steinen. Vögel zerfallen
zu Sand, als ob es
knirschte in Knochenflöten.

Im Vorbeigehen abgestreiftes
Licht, sanft wie Butter.
Süße Zeit, triefäugig in schlafende
Böschungen eingerollt.
Wie ein Zupfen von Blütenrändern
wechseln die Gezeiten der Larven.

Die Luft, dünn geschliffen von Sonne
schneidet aus den Felsen den Schatten.
Leise, leise der Wind,
rüttelt am Fundament
der Nacht, läßt Wurzeln
leuchten unter Kronen aus Moos.

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Freitag, 19. Juni 2015
Hundertsiebzig (Liebeskummer; vom Lassen)

„Ob’s nicht das beste für dich, du würdest dich anders verlieben?
     Besser der anderen ganz, als mir gehören nur halb?
Nicht will ich nehmen dir weg, was andre dir wohl könnten schenken.
     Mich nämlich gibt es nur so. Hab doch gegeben mein Wort.“
Bestes nur wünschst du für mich, doch ist diese Rücksicht mir bitter:
     Ziehen ließest du mich eher, als los deinen Mann.
Bestes wünschest du mir, doch wär ich schon damit zufrieden,
     daß du dich schenktest mir ganz, wünschtest das Beste dem Mann.

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Donnerstag, 18. Juni 2015
Hundertneunundsechzig (Einkaufstüten)

Sie liegen schwer am Ende ihrer Strecken
im dunklen Hausflur wie gefallne Mädchen,
sind heimgekehrt von Laden oder Lädchen,
und lehnen jetzt an kühlen Wänden, recken

die Griffe hoch und wie nach Priesterhänden,
und lauschen nach der Türe, ob von hellern
Bezirken Stimmen kämen, Lärm von Tellern,
ob jemand ging, den Pfuhl ins Licht zu wenden,

den sie im Innern tragen. Wie auf alten
Gemälden Faltenwurf von weicher Seide
so glänzt die Plastikhaut. Sie müssen sühnen

was sie an süßem Prassen in sich halten
sie leidens nicht, wie’s knistert im Geschmeide
rings um ihr Herz aus Butter und Rosinen.

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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