Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Montag, 8. Juni 2015
Hundertneunundfünfzig (Minuit du Faune)

An einem zitternden Band
reißt der Mond sich los
vom Gewicht des Wassers.

Strudelnd bricht sich die Dunkelheit
an den süßen Untriefen, wo die Hügel
unter die Gänsehaut schlüpfen.

Bis zu den grellen
Wonnenfinsternissen auf dem Strom
reicht die rosendringliche Nachtbrache.

Über den Hüften der Scheumond,
wo deine Lippen in Reusen wurzeln.
Zungenfächer heben keusche Silben
aus dem Milchweiß reifer Venen.

Wimpern bohren sich in deine
Handflächen, die sanft sind wie schlafende Berge,
wo jähe Federlinge
bäuchlings schmettern.

Und der Mond schwebt wie der Schatten gelber
Beeren hinter der uralten
Stirne des Fauns.

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Sonntag, 7. Juni 2015
Hundertachtundfünfzig (Spatzen)

Aus den Lücken im Blau gefallen,
ins Licht gerutscht, beharrlich jetzt
nach dem eigenen
Schatten jagend, der sie lockt
übern Grund, wieder und wieder
ihren Schemen zurückwirft
an die Leinwand des Wetters.

Später, kleine Keile in den Flächen
des Lichts, flackernde Leerstellen,
Himmelsscherenschnitte, zu schnell
für flugunfähige Augen, eine Wimper
am Lid des Tags.

Wie Geister aus dem Nirgends der
Luft hocken sie plötzlich auf dem Kaffeetisch,
picken sich einen fetten Krümel
aus der Fülle ihres Morgens.
Aufzuckend dann wieder veerschwunden,
lassen sie nichts als Stümpfe
zurück von Blicken, ein Zwinkern
im blanken Löffel, ein Schnappen
nach Luft von Papier und Rosen.

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Samstag, 6. Juni 2015
Hundertsiebenundfünfzig (Später Morgen, später)

Nachdenklich über den abgebrannten Dochten von gestern steht das Licht gebeugt, ein Fremder in einer fremden Küche. Kein Fußtritt fällt im Haus. Die Uhren sind still wie ausgeleerte Schränke. In den Fluren steht die Stille. Ein Silberglanz vergessener, verstaubter Bleilettern. In leeren Vorratsgläsern krümmen sich die Blicke. Wo die Schneekugel ausgelaufen ist, in der dunkelsten Ecke des Parketts, schimmern die Küsten eines Kalkflecks. Neben der Eingangstür steht der große Spiegel, gedankenverloren und stumm, wie jemand, der sich noch nicht entschieden hat, ob er bleiben will oder gehen. Spinnen haben sich entschieden, hängen leblos wie Ascheflocken an der Decke. Jemand hat Wein getrunken, in den Gläsern zerfällt die Farbe zu hohlen Schleifen. Auf dem Notizblock verschmierte Tinte, Rauchzeichen am Horizont des Papiers. Unleserliche Handschrift starrt dir entgegen, wenn du eine Schublade aufziehst. In deinem eigenen Adreßbüchlein kommst du selbst nicht mehr vor. Der Mottenflügel unter der Kerzenlaterne sieht aus wie ein Fingernagel. Gestern war zuletzt vergangenes Jahr. In den Muscheln auf der Fensterbank ist das Meer verstummt. Ob der Bus noch fährt? Du solltest für euch einen Kaffee machen, es ist Zeit. Auf dem Metall des Löffels auf dem Tisch ruht ein unbekanntes Gesicht.

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Freitag, 5. Juni 2015
Hundertsechsundfünfzig (Sommer, zu früh)

Herolde hissen die Bäume. Das Grün reckt munter die Fäuste.
     Wie eine Walze aus Licht rumpelt der Morgen ins Tal.
Schatten suchen den Schatten und treten sich selbst auf die Füße.
     Kochend von Karpfen am Grund wälzt sich der Tümpel im Schweiß.
Ich aber berge die Zunge und tauche die Zehen in Schränke:
     Denn zu all diesem Fest fehlt deine zähmende Hand.
Häute sind weit noch von Nacht und reichen dem Traum noch zum blauen
     Innern, an Spiegel gelehnt kühl ich den schmerzenden Blick.

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Donnerstag, 4. Juni 2015
Hundertfünfundfünfzig (Sommersturm)

Die Blätterdächer schieben sich übereinander,
eins unterm anderen Schatten suchend.

Von der Straße hebt der Staub hustend
sein Haupt aus Fliegen.

Die Sonne läuft im Kreis überm See,
fängt Mücken
in Spiegelkäfigen.

An Baumwurzeln versammelt sich windblaues.
Raunen. Mit schwefelgelben Rädern
erntet der Weizen Sturm.

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Mittwoch, 3. Juni 2015
Hundertvierundfünfzig (Turm)

Festgesteckt am blitzenden Auge
hängt der Falke unbeweglich in der Luft.

Treppen rutschen aus dem Himmel, wo dein
Fuß leicht auftrat. Von unseren Händen
tropfen die Flüsse im Land.

Ich umfasse dich auf dem Dach
des Himmels und sehe deinen
Blick fliegen.

Die Erde schwankt und klammert sich
an die Kompaßnadel.

Ich halte deine Hand wie eine Wolke,
die nicht schwindelfrei ist.

Wir küssen uns, die Augen voll
Himmels, und die Vögel sind das Organ
mit dem die Luft
Atem holt.

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Dienstag, 2. Juni 2015
Hundertdreiundfünfzig (Regen)

Im Regen macht sich der Weg
schmal, sucht einen Unterschlupf
an der geduldigen Hecke.

Die Bäume rücken enger zusammen
wie Gesichter sich zur Mitte wenden,
daß alles Grün seine Rückseite zeigt.

Tropfen zählen das Alphabet der Nässe auf.
Dem Wegkreuz an die Stirn geschlagen
schwebt das Wasserzeichen überm
Knie der Dämmerung.

Unter den Fäusten des Laubs
matte Vogelspeicher. Unhörbar
das Geheul der Schnecken.

Blicke fallen wie fette Beeren
aus den Falten des Grüns.

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Montag, 1. Juni 2015
Hundertzweiundfünfzig (Falke)

wo die klippe sich in sturm
verwandelt, der fels in helle
strömung, schwebt, ein punkt
zuerst, dann ein winken, als
würfe der hang mit steinen,

ein falke. er zieht einen einzigen fleck
ins gewebe des raums, hält wie eine waage
die sonne im auge auf gleichgewicht, markiert
die launischen ränder der schwerkraft, selbst
ohne schwere.

gibt nicht auf, lockt, verlangt,
zwingt vom wind das letzte, das schönste
geschenk, steht und schmiegt sich,
schafft einen ort inmitten ortlosigkeit,
sein revier in den gefilden der sonne
und der lüfte, wie eine flagge ohne mast,
wie frei schwebende blicke ohne haupt.

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Sonntag, 31. Mai 2015
Hunderteinundfünfzig (Moselwanderung)

Zu den Höhen hinauf springt
der Stein in riesigen Sätzen.

Oben, die Blicke im Ginster
versteckt, starren Marien
und Eidechsen an kleinen
Augenufern hinüber.

Das Tal schraubt sich ins Grün,
bis es von schwarzen
Nestern aufbricht.

Kirchtürme balancieren mit der Spitze
auf den Wolkenrändern. So fliegt
davon, was das bunte Glas nicht einfing.

Himmel und Fels hängen an zwei
Enden des Flusses
wie am seidenen Faden.

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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