Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Sonntag, 3. Mai 2015
Hundertdreiundzwanzig (Morgen im Wald)

Erst später wird man wieder atmen müssen:
Noch reicht das Licht, noch dringt so leise
die Luft von selber in die feuchten Poren.
Noch sind wir schlafgesättigt

an unserm Ort im großen weiten,
im blauen Schlafen, drin wir aufgehoben,
wirr, wölfisch, wild-ergeben träumend,
die Augen matt wie Vogelkissen.

Die Luft so reglos wie erblindet
kein Beben in den keuschen Ästen
die Luft schwebt trüb wie kühle Milchen

in deinem wirren Haar, und jeder Kuß, er wäre
zuviel, schon Wimpern, schon Atemzüge lösten
den Spiegel auf, darin der Tag uns findet.

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Samstag, 2. Mai 2015
Hundertzweiundzwanzig (Abend im Wald)

Mit langen Schatten fällt
die Dämmerung ins Innere
von Stamm und Stein

und Stiefel. Ein Rieseln
in den Rümpfen. Mücken
öffnen die Schwärme
wie verstopfte Poren der Luft.

Kein Zelt unterm Himmel.
In einer Schneise räumt
das Licht die Tiefe auf.

Bis zum Gestern dauert
es schweigende Bäume. Dann
wird der Teich taub
für Glocken.

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Freitag, 1. Mai 2015
Hunderteinundzwanzig (Abend am Wegrand)

Wären wir bis zum Abend geblieben,
dort oben am Wegrand:

Wie Wimpern fielen die Schatten
über den Weg

Tief in der Schlucht verhallte
ungehört der Wasserfall

Die Sternmiere hielte noch einen Moment
das fliehende Licht am Grund

Der Strom zöge Tücher von den Hügeln,
bis alles ins Fließen käme.

Während wir schon verschwunden wären,
leise, eins in der Hand des andern.

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Donnerstag, 30. April 2015
Hundertzwanzig (Gras)

Am Morgen, zwischen zwei Arten
von Dämmerung, wie Wimpern, der
Beginn der Seggen.
Wirrnisse, aus denen, wie träumende Kinder
das Gras auftaucht, als sei alles noch ungewiß,
am meisten die eigene Form:
die feinen,
die allzu feinen Grenzen von Licht und Halm
und Webfasern zwischen den Fingern der Luft
und Arten von Regung, fadendünn und immer wieder
die Seiten wechselnd, als müsse es erst noch
herausfinden, ob es dem Licht oder dem Stoff
zugehört, mühsam noch im Vertrauen
zum Wind.
Wie der Einfall im leuchtenden
Fließen, Gras zu sein: Nicht zu zeichnen, nicht nach-
zuschreiben, der Versuch nur, die Luft zu
schraffieren, so fraglich-fragil, daß
das Licht sich im Labyrinth seiner Schatten
verirren mag. Wo ein Strahlen endet, beginnt
noch kein Halm, wo es anfängt, zu leuchten, noch kein
Schatten, kein Spiel, bleibt alles ein
Gedanke zwischen Halm, Qualm,
glimmenden Quasten am Wind.

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Mittwoch, 29. April 2015
Hundertneunzehn (Tagelied)

Das Radio schweigt, die Zahlen
treiben, durch Brillen fällt die Dunkelheit
in fremde Augentümpel.
Der Bahnhof hat uns drei

Küsse oder vier geschenkt, wie eins
ums nächste immer köstlichere Fruchtpralinen.
Danach ist ferne jeder Schlaf, und Stunden
suchen deinen Namen überall. In Büchern

steht nichts über uns, was uns hier litte.
Heimwärts der Schlüssel wie ein Dieb
an meiner Tür, nachts hat mein Bett

in deinen Schoß gemacht. Die Gläser
sind beleidigt. Die Zahnbürste weiß
von Küssen nichts, vorm Fenster Schritte, Schritte.

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Dienstag, 28. April 2015
Hundertachtzehn (Morgen in der Börde)

als hätte der himmel im steigen
haut über häute abgestreift.

ein restlicht im kern der blüte,
nicht mehr als
eine prophezeihung von licht.

in einem wegekreuz schließt sich
der mond ein.

wirrnisse im strauch. die zweige
werfen den Schatten ab.

tauchen auf zum atemholen
der vögel.

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Montag, 27. April 2015
Hundersiebzehn (Violoncello)

Sein Klang ist wie ein fernes Überhängen
aus Träumen, drin sein Spiel war eingewurzelt.
Ein Ton wie ein Erinnern an sich selber,
worin die Stimme sich als Stimme kennt,

als Freundlichkeit, als warme, sanfte Gabe
zum Ohr, das sich wie nie zum Hören findet,
da es von alten Liedern wachgerufen,
von etwas, das es weiß und niemals kannte.

Ein Klang von immer schon, von fernen Nächten,
der hundert Arten, Klang zu sein, erzählt,
und spinnt noch fort, was er im Traum verwebte.

Und bleibt noch in der Stille unverklungen,
ins Schweigen fortgestrahlt, was klingend lebte,
ein Echo nach dem Echo, das sich lange hält.

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Sonntag, 26. April 2015
Hundertsechzehn (Breslauer Platz)

Als hätte die erde
ihre schwerkraft vergessen,
so mühelos hebt sich
das gemäuer, gerät ins schweben,

stein um stein auf nichts
als licht geschichtet.
und das licht, wie auf treppen
emporgehoben wieder von stein,
als zöge der stein das licht,
das licht den stein in die
höhe, wie ein dominospiel, das,
vom glauben angestoßen,
nicht anders kann als immer weiter aufwärts

zu fallen. und das licht so steil, so sehr
in turmhoher begeisterung
steigend, zur fernen, zur rauhen fernen
wärme des steins, an der spitze, am
kreuz, wo der sonne schwindelig wird

in den wie augen offenen
fensterbögen. nirgends blaut
der äther so himmlisch wie in jener
unfaßlichen fassung des steins,
der sich wölbt wie eine braue
überm lächeln.

als blicke man durch himmel über himmel
geradewegs einem letzten, tiefsten
himmel auf den leuchtenden grund.

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Samstag, 25. April 2015
Hundertfünfzehn (Ronsdorfer Talsperre)

In einem Vogelauge klärt sich
der Himmel wie leise Milch. Ein Tropfen
weht in Ringen
durch die Föhrenwipfel

Der See steigt still an Land.
Das Wasser erinnert sich
an Kinder und Enten. Indem
die Tiefe steigt, fallen
die Blicke ruhig zum Grund

wie Blätter. In Wolken spiegelt sich
für einen Moment das Karpfenmaul

Wenn alles still ist, schleicht sich
der Tag auf die Rückseite
der Spiegel, wo alle Bilder ruhen

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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