Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Sonntag, 1. März 2015
Sechzig (Busreviere)

Sie sitzen eng zueinander
gedrängt wie Füchse im Bau,
mit Zähnen und Klauen
ihre Nähe verteidigend,
Fell an Fell, ihre
Blicke suchen sie voreinander
zu verstecken, wie Beute,
die sie nicht teilen wollen. Ich habe

mit denen nichts zu schaffen,
ich habe keine Beute gemacht
ich schaue ihnen auf die
Schuhe und nassen Hosenaufschläge,
drücke mich in eine Ecke, leise
knurrend, ihren fremden Geruch
hassend, während sie meine,
des bissigen Feindes, Nähe suchen,
den liebend mit sicherem Instinkt,
der sie am liebsten schlagen
möchte. Später bleibt

eine Lücke hinter
den beschlagenen Scheiben,
und so, wo ich nicht mehr bin,
wo ich nicht mehr eingekeilt
hocke zwischen den ängstlichen Tieren,
wo sie vor meinem Platz
scheuen wie vor einem fremden

Revier, bin ich endgültig
eins von ihnen geworden.

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Samstag, 28. Februar 2015
Neunundfünfzig (Flugscharen)

Und die Flugzeuge, eine Probe des Raums,
Wege, flimmernd am Rand des Abends,
eine Projektion

größerer Pläne, himmelschreiend, Federkleid,
Hochzeit von Schwingen, und
was sich freut an der Tiefe über allen
zunehmenden Wassern.

Linien, vom Flügel aus den Himmeln
abgeschrieben, Spuren, die sinken

und sinken wie das Kielwasser
nachdenklicher Schiffe, wo

der Himmel den Saum
einer Schwinge vergißt,
macht sich ein Nest

breit, flügge gewordener Sekunden.

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Freitag, 27. Februar 2015
Achtundfünfzig (Mitternacht)

Der Abend fällt
durch die Maschen der Bäume.

Über versteinerter Milch
spannen die Motten den Schlaf.

Wo das Dunkel sich rundet,
stößt der Fuß an die Hüfte des Räubers.

Aus traurigen Lidern kullern
Schädel ins Tal.

Die Glocken harren. Mitternacht schlägt
mit dem Bocksbein aus.

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Donnerstag, 26. Februar 2015
Siebenundfünfzig (Hase im Sprung)

Der Hase setzt zum Sprung an im Tod, als habe er diesen Sprung, gestreckten Leibs, nur geträumt, und wie man im Traum nicht vorwärtskommt, obwohl man sich abmüht, so bleibt auch der Hase in der Anstrengung erstarrt, kommt nirgendshin, und die Luft braust durch seinen Stillstand, zäh und auswegslos träge, kämmt ihm das Haar, ihm, der nirgends mehr auftrifft, der für immer aufgetroffen ist, seine Sprungbahn zu Ende vor dem Ende, so liegt er im Graben, in den Augen noch den Schrecken des Feindes, den Triumph des Entkommens, die wollüstige Ekstase der Flucht, des Todes; sein Körper noch voller Spannung, Vibration, von Hinterlauf zu Vorderlauf die ganze Unendlichkeit einer Sekundenbruchteils durchmessend, eines Zeitintervalls, das nie mehr verrinnt, das zusammengefallen ist zu einem Punkt ewiger Ausdehnung, und so, aus der Unendlichkeit in die dürftige Dauer des Diesseits projiziert, das Ereignis seiner Flucht notiert ins Gras, wie ein kostbarer Gedanke, ein nie wieder solcherart zu erreichender Vers.

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Mittwoch, 25. Februar 2015
Sechsundfünfzig (Mädchen am Bach)

Die alte Pappel neigt sich über die Wiege des Abends. Ein zerbrochener Waschtisch, darüber angeschwemmt der Streifen Wildwuchs jenseits des Gartenzauns. Riesenaugen magerer Mädchen, gefangen in Labyrinthen aus Schultagen. Aus der Bahnunterführung Knattern eines Mopeds. Wie die Hecke einen Bogen macht. Das Haus, vertäut an langer Leine, treibt einsam den Lichtern der Straße zu.
Immer noch ein Stückchen weiter: eine Scholle, ein Feldstein, ein Stück Wurzel, mit der das Dunkel sich an den Boden heftet. Das Gesicht eines Alten, schimmernde Züge in verwitterter Borke. Ein Vogel fliegt auf, zieht alle Linien aus dem Stamm. Flackernd mal die Dämmerung Spuren über die Fersen von Gummistiefeln. Die Augen treiben im Bach dem Mond zu. Reiher stehen, wo die Kinder am Nachmittag verschwunden sind, die Farben ihrer Mützen dämmern in einem alten Dachsbau. Die Mädchen äugen nach den mächtigeren Vögeln. Sie zeigen einander das spröde Haar, die harten Nasen, die Schatten unter den Augen. Sie zeigen sich dem Abend wie Füchse. Die Augen schweben und ziehen Wolken in Büscheln herunter. Es ist Abend, die Spiegelungen sind dünn und leicht zu verwirbeln. Der Bach krümmt sich, um einen Blick auf die Mädchen zu erhaschen. Eine von ihnen will endlich wissen, wie das ist, streift sich die Stiefel von den Füßen, bietet ihre bloße, schmale Haut den andern dar wie ein Geheimnis, taucht den Fuß in den schlammigen Bach, wackelt mit den Zehen, wie eine Schnecke ihre Fühler in die Luft streckt. Die andern sind unangenehm berührt. In ihrer Mitte zappelt das rote Fleisch wie ein Opfertier. Sie stehen im Kreis und sehen aneinander vorbei. Eine wird nachher nicht nach Hause kommen, wird nie mehr gefunden werden, nichts von ihr, die Stiefel nicht, ihr Fell nicht, nicht einmal eine eingekerbte Linie in einem alten Stück Schwemmholz. Obwohl das doch möglich wäre. Noch stehen sie herum, ihr Atem weiß und sauber wie Baumwolle in der schrumpfenden Luft. Die mageren Hüftknochen in den engen Jeans markieren die harte Dämmerungslinie. Traumverloren ziehen sie mit den Nägeln Spuren in den Schlamm, dessen Geruch ihnen wie Blut in die Nase dampft.

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Dienstag, 24. Februar 2015
Fünfundfünfzig (Morgen bei Vochem)

Der Weg geht immer hin und her. Zum Zaun, auf dem Absatz kehrt, mit Schlammbrocken wieder zurück, unter der Pfütze durch und zur Landstraße, und wieder kehrt. Es juckt den Asphalt von schwarzen Vögeln. Die Vögel haben keinen Namen. Barbarische Flüge ohne Grammatik. Der Morgen überrascht Wolken im Schlaf. Am Wassergraben beginnt die Baumreihe aufs neue die Zählung. Wenn die Bahn fort ist, beziehen kleine scheue Tiere, die nie jemand zu Gesicht bekommt, die Haltestellen. Am Glockenstrang hängt ein ganzer Hügelzug. Verwirrung käme über die Furchen, würden nicht die Schilder an der Kreuzung von Ferne den Acker verwalten. Wohin keine Pfeile weisen: Eine Insel mit blutigen Weidenstümpfen wartet auf ein Wort, das sie von der Wildheit erlöst.

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Montag, 23. Februar 2015
Vierundfünfzig (Möwe, einbeinig)

Am großen Fluß vertäut liegt für uns der kleine Nachmittag. Halt auf freier Strecke. Wir leihen uns Küsse aus der hellen Luft, die wir später vergessen zurückzugeben. Wir gehören uns ja gar nicht, aber der Nachmittag schaut weg, und wir tun beherzt so, als ginge es uns nichts an. Der Zug fährt ohne uns, wir sind blinde Bleibende. Um den Himmel überm Strom zu sehen, mußt du dich weit hinauslehnen. Im Nachmittag liegt deine Hand wie ein Vogelnest. Die Einbeinige Möwe sagt dem Wind die Wahrheit in die Tasche. Auch gestohlene Küsse schmecken nach Picknick im wilden Laub. Ein Vogel ruft. Hunde drehen sich nach uns um. Plötzlich hat der Fluß es eilig, davonzukommen. Aufs Tagelied kannst du pfeifen.

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Sonntag, 22. Februar 2015
Dreiundfünzig (Rheinpromenade, abseits)

Ein Uferstreif unter der Kaimauer, verschattet, am äußersten Rande von allem, vom grünen, großen Wasser, vom belebten Weg, von Blicken, ein Haufen angespülter Sand, gefüllt mit Fremdheiten: Ein Netz liegt da herum, ein gespleißtes Tau, ein unförmiges Stück Rost. Liegt herum: ist übriggeblieben, wieder aufgetaucht, ist unbrauchbar. Selbst der Sand gehört hier nicht hin, ist ein Versehen des Strömungsgangs, der Eiszeit, des letzten Hochwassers; das einzige, das ein Funkeln der Sonne einfangen kann, ist eine leere Flasche, grün und leuchtend wie ein verlorener Edelstein; daneben, ohne Licht, ohne Schatten, ein Fußabdruck, vereinzelt, verschlissen, von keinem vermißt.

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Samstag, 21. Februar 2015
Zweiundfünfzig (Hut in der Dämmerung)

Im Zwielicht eine Bewegung. Ein Mensch geht zwischen den Feldern. Erst hat man ihn nicht gesehen, gleich wird man ihn nicht mehr sehen, und dazwischen hebt diese Gestalt, als sei sie sich der Bedeutung dieses Moments bewußt, den Fuß, setzt ihn mit Sorgfalt vor den anderen, macht ein Schritt; kein Laut ist zu hören, die Entfernung ist zu groß. Von der Ebene indessen dröhnt das Brausen des Verkehrs. Die Ferne steckt Lichter auf. Rauch nimmt die Farbe von Nacht an. Die Schollen streben fort, als suchten sie in Schwärmen ein Lager. Der Gehende löst sich auf; einsam schwebt der Hut im Brei der Dämmerungen. Die Wege beginnen alle, ein Ende haben sie nicht. Die Wege verfügen über die ferne Gestalt, wie Bäume über den Wald verfügen. Dann ist der Mensch fort, ist in der Senke zwischen den Feldern verschwunden wie ein flüchtiger Gedanke von anderen, beständigeren Gedanken abgelöst wird.

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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