Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Freitag, 20. Februar 2015
Einundfünfzig (traurig)

Meine Traurigkeit sind die einsamen Kamine
auf den schwarzen Winterdächern.

Meine Traurigkeit sind die Bäume im Park;
die dunklen Knoten der Erlen
in der Abenddämmerung sind meine Traurigkeit.

Meine Traurigkeit ist ein Tropfen, der durchs
schadhafte Dach des Bahnhofs fällt.

Meine Traurigkeit sind die Möwen,
die in langen Reihen am leeren,
grünen Fluß hocken, wie Flaggen auf Halbmast.

Meine Traurigkeit ist der blaue Schein des Displays
auf den Gesichtern der Liebenden, die in der U-Bahn
auf der Treppe sitzen.

Meine Traurigkeit sind die leeren
Küchen, hell hinter zurückgezogenen Gardinen,
ein einzelnes Licht ganz oben im dunklen Haus.

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Donnerstag, 19. Februar 2015
Fünfzig (schlaflos mit Flugzeugen)

Einmal war ich schlaflos. Ich lag in der Dunkelheit meines schiffgroßen Betts, grub mit dem Zeh in taubem Gestein und wackelte leise an meinen porzellankalten Zähnen, während ich den Flügen der Frachtliner lauschte, die Schleppen aus tönender Einsamkeit durch die Nacht zogen. Ich stellte mir vor, sie hätten vielleicht Träume geladen und würfen sie nun ab über dem von spärlichen Lichtern bestirnten Land tief unten. Oder womöglich brachten sie keine Träume, sondern trugen sie fort, Diebesgut, oder flogen verdächtige Nachtschriften zur Zensur, gesellschaftschädliche Visionen einer künftig insgesamt abzuschaffenden Nacht. Oder vielleicht träumte ich schon und war in einem Traum, in dem Träume gestohlen oder zensiert werden. Über der Frage, ob mein Traum nun gestohlen war oder nicht, ob es überhaupt möglich sei, einen entwendeten oder der Zensur zum Opfer gefallenen Traum zu träumen, wachte ich auf. Im großen Buch des Morgens dann waren alle Seiten blank.

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Mittwoch, 18. Februar 2015
Neunundvierzig (mehr Fieber)

Dieser Abend kennt
mich schon doch
verrät er mich mir
nicht eine Sternspur
im verschilften Eis unter
der Hecke fiebrig
ein Wind die Hand
gekrallt um den
Stein sink ich in
felderweiten Schlaf.

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Dienstag, 17. Februar 2015
Achtundvierzig (Fieber, meines)

Zuerst glaubte ich, das Bild verschwände in der Wand. Langsam einsinkend, mit flimmernden Rändern, ließ es sich ansaugen von der Tapete. Und mit ihm die Lampe, Schatten werfend aus dem Jenseits der Mauer. Schloß ich die Augen, kehrte alles wieder zurück, hatte sich nur selbst verliehen an einen anderen, unsichtbaren Raum. Beinahe schlief ich: Da schlug ein Buch sich selbst auf, darin die Dämmerung mich las kurzsichtigen Auges, während ich die Stäbe des Schlafes mühelos durchstieß.

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Montag, 16. Februar 2015
Siebenundvierzig (Meßdorf, Mittag)

Ein Flugzeug bleibt hängen
wie ein Sandkorn unterm Lid.

Das Licht rammt Säulen
in den kahlen Acker.

Drachen ziehen
den Himmel ans Feld.

Stille. In der Luft schmelzen
Kinderstimmen wie zwitscherndes Karamel.

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Sonntag, 15. Februar 2015
Sechsundvierzig (am Morgen, erschöpft)

Am frühen Morgen, vor dem ersten Licht eine Kerze, eine duftende Hyazinthe, ein Fenster, das verschlossen ist gegen die Nacht. Und wieder graben, graben nach Sinn, graben und grübeln, einen silbernen Löffel in der Hand und die Uhren hängen von den Fingerspitzen. Warten, daß die Dinge hell werden. Am Schlaf vorbei sehen; nach der Rückseite der Träume. Der Versuch, auf die stumpfe Seite eines Spiegels zu zeichnen. Ein Ei auf die Spitze stellen gegen die Meuterei der Stunden.

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Samstag, 14. Februar 2015
Fünfundvierzig (Fieber, deines)

Dein Fieber liegt auf der fremden Seite des Morgens. Mit Silberkugeln kämpfe ich gegen die Geister. Du träumst. Der Schlaf entzweit die Nacht. Ich trage wilde Masken, hinter denen meine Angst hockt. Einer Strohpuppe flöße ich Sirup ein. Hände, die ich nicht kenne, halten deinen Schlaf. Für die Stimmen aber, die dich suchen, weilst du auf einer entlegenen Insel, bewohnt von mißtrauischen Tieren. Träume fliehen von meinem Fenster. Du aber siehst die Ferne von nahem. Ein Schwarm Stare gerinnt zu deinen Wimpern.

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Freitag, 13. Februar 2015
Vierundvierzig (Nacht im Zelt)

Nacht und ein Zelt. Und ein
Atem und ein Klang. Unterm Lid
schlafen die Hügel. Beflaggt
von traurigen Vögeln
folgt der Strom dem großen Bären
in der stillsten Stunde zwischen
zwei Händen voll Wind
wandeln die Füße im Schlaf wo
das Licht in der Ferne siedelt.

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Donnerstag, 12. Februar 2015
Dreiundvierzig (Pappeln hegen)

Die Pappeln hegen ein Feld
ein, Weiden ziehen
einen Bachlauf gerade.
Die Furchen spannen
den Acker straff.

Ein Flugzeug verliert sich
am schimmernden Bachgrund.
In der Dämmerung weisen
Steine dem Weg den Weg.

Mit polternden Schritten
zieht der Waldsaum zum Gipfel empor.
Ein Grat fällt dem Abend
aus der Tasche

Gefaltet im Stein und im Zweig
kommt das Große im Kleinen zur Ruhe.
Wenn ich den Arm ausstrecke
finden alle Linien Frieden
in der geöffneten Hand.

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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