Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Samstag, 5. Dezember 2015
Dreihundertneununddreißig (Marionetten)

Es ist an diesem Morgen nichts, was niemals
gewesen wär. Das Grün versammelt sich im Baum
wie Kinder an den Kletterwänden. Meisen
erzielen Lichtgewinne. Autos spinnen

die Strecken aus zu Gold. Am Zebrastreifen
zerbricht das Licht in Stücke. Gärten lauern
mit ihren Blicken voller Hund. An Kränen
hängt schmaler Himmel, zappelig und stumm.

An dünnen Seilen hängt die Welt, was immer
gewesen ist, das zeigt nur Vorderseiten.
Im Weiher küssen Schwäne ihren Spiegel.

Auf Säulen mahnen Götter strenge Wonnen.
Propheten stehn vorm Bahnhof, vor Geschäften,
die umgedrehte Mütze voller Sonnen.

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Freitag, 4. Dezember 2015
Dreihundertachtunddreißig (Feld im Dezember)

Der Sturm vergräbt den Kopf
in der Erde. Die Bäume stampfen
mit dem Fuß auf. Wie Kinderbojen hüpfen
die Lichter

in der Allee. Eine Straße voll Wind.
Ehe ihn die Fingerspitzen halten
können, flattert ein Kuß
davon. An den Fahnen zerrt die Zeit. Jahre
ruhen unter den Steinen, fett wie Maden.

Die Lichter eines Hauses stehen
fröstelnd im kahlen
Spiegel des Sumpfs. Ein kurzer
Dezember nahm die Glocken
aus dem Kirchturm, vergrub
Bronze unter wachsamen Espen.

Leise stößt ein Fuß
an den Ackersaum, wo die Furchen
sich zum Abend hin krümmen. Gedanken scheuen
das Wort wie magere Rebhühner,
wenn durch die Ferne die Schüsse rollen.

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Donnerstag, 3. Dezember 2015
Dreihundertsiebenunddreißig (Verpuppen)

Erkunde mich mit Fingern wie mit Lupen.
Und um mich wende, wenn du magst, wie Stulpen.
Bestelle meine Haut mit Wundertulpen.
Sei still zu mir, wenn ferne Autos hupen,

und zieh den Lärm mir aus den Fingerkuppen.
Der Winter kommt. Laß uns in Decken schlupfen,
ich mag mich gern als Zwillingsnuß verpuppen

mit dir. Im Schlaf dir an den Träumen zupfen,
wenn Winterschafe an dem Lichtrand rupfen,
dann rieselte dein Kuß wie Sternenschnuppen.

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Mittwoch, 2. Dezember 2015
Dreihundertsechsunddreißig (Entlassen)

Spät tastet der Ginster nach Hause.
Gestrüpp hält den Mond in der Klause.
Bleich schimmert der See
in Mänteln aus Schnee.
Es schäumt in den Himmeln wie Brause.

Die Lichter so ferne wie Frauen
so schwinden in dämmrigen Auen.
Im Dickicht ein Schuh,
der Schlamm deckt ihn zu.
Der Weg führt vom Tauben zum Blauen.

Wo ward, der hier ging, einst entlassen?
Kein Blick, keine Stimme zu fassen.
Der Mond winkt im Rohr,
im Laub schläft das Ohr.
Mehr Schnee kommt in Massen, in Massen.

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Dienstag, 1. Dezember 2015
Dreihundertfünfunddreißig (Laub)

nur noch ein blatt, ein
letztes, oder zwei

ein zweig läßt sie
fallen, sorgsam wie den letzten
pinselstrich

endlich scheint alles
laub an seinem platz zu liegen

die zweige verharren noch, erhoben
wie die zögernde hand des künstlers
vorm meisterwerk

das licht kommt hinter den
Stämmen hervor, will besser sehen

aber etwas stimmt
noch nicht, stimmt nicht:
die blätter ahnen es

kein hauch regt sich am boden
sie liegen so still
wie ratlose
münzen im wunschbrunnen

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Montag, 30. November 2015
Dreihundertvierunddreißig (Sonnenuhr)

Wie der Flugschatten von Vögeln
die Dunkelheit unter der Mauer füllt.

Steine, die über die Schwerkraft
wuchern wie Landkarten über den Weg

Die Sonnenuhr legt das Jahr
in Fächern beiseite. Der Schatten
welkt am Rosenstrauch

Einen ganzen Winter lang pumpen
die Bäume Himmel in den Bach.

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Sonntag, 29. November 2015
Dreihundertdreiunddreißig (Halde)

Ein Rohr spuckt Vögel auf den Sand. Wie Spülsaum
verfallen Wolken in den Pfützenminen.
Die Skizze eines Baums am Himmel, Flugtraum

der Abgaslinien. Wege hinterm Schlagbaum
gestaut, sie stampfen gegens Eis. Maschinen
entrollen laute Fernen hinterm Waldsaum.

Die Sonnen abgelegt in Magazinen.
Die Stirne leer, im Ohr Gebrüll von Abraum.
Geknicktes Licht, der Blick gestoppt von Schienen.

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Samstag, 28. November 2015
Dreihundertzweiunddreißig (Spaziergang)

Der Abend bringt die süßeren Sonaten,
da sich der strenge Krug mit Schatten füllt.
Die Bilder bleiben blind und fremdgestillt,
vergebens tönt das Wort, dem Pfad zu raten.

Noch wär es vielleicht Zeit. In flüsterblonden
Bezirken wohnt, von Spindeln sanft umhüllt,
der Knospenstau, beschäftigt alle Sonden.

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Freitag, 27. November 2015
Dreihunderteinunddreißig (Finger)

Sie sucht nach einem Grund für diese Hitze,
nach ihrem Kern. Sie zerrt. Doch ist’s wie Mücken
zu jagen. Griff ins Leere. Zum Entzücken
muß man sich selber durch die schmale Ritze
bugsieren. Aus der Haut. Im Atmen Schlitze

ertasten, hart an Wasserfällen reißen,
Es heißt, sich in sich selber zu verbeißen,
mit einem Wort, das kollabiert, die Litze
so hart gesponnen, daß die Zungen gleißen.
Die Mücke brennt. An Hüften Köcher glühen.

Dann implodiert das Licht. Minuten kraißen,
bis wieder Atem ist. Skelett aus Grütze,
die Nabe fällt nach innen. Zeit, zu blühen.

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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 9 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 9 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 9 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 9 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 9 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 9 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 9 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 10 Jahren

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