Dreihundertfünfundsechzig und ein Text
Samstag, 27. Juni 2015
Hundertachtundsiebzig (Reisende, Breslauer Platz)

So stehen sie da, hilflos, schon weggegangen und noch nirgends angekommen, nicht hier noch da, schwojend, an ihrem Rollköfferchen vor Anker. Blinzelnd schauen sie in die frierende Luft des Busbahnhofs. Die ganze Heimat verstaut im Gepäck: vertraute Alleen, der Park ums Eck mit den knorrigen Bäumen, der Spiegel im Bad, der Himmel über der Stadt, die Schatten im Treppenhaus, der Klang der Tasse, die Farbe der Uhrzeiten. Jetzt, im Schatten einer fremden Kathedrale, eilen sie von Bussteig zu Bussteig, ein hastig gekauftes Croissant in die Jackentasche gestopft, eine Zeitung unterm Arm, und im Haar noch den Duft der Seife vom morgendlichen Duschen. Dieser Morgen ist schon fern und treu wie ein allein gelassener Hund.
Jetzt eilen sie, suchen die Fremde auf wie einen Schutz, der sie befreit von sich selbst, von der Last, sie selbst und schon alles zu sein, was man ist, die ganze Geschichte, erschöpft und zurückgeschlossen in das Zimmer der eigenen Mütze, des Hemds, der müden Haut. Abends im Hotelzimmer werden die Kleider aus dem Rollkoffer ein bißchen traurig nach dem eigenen Schrank riechen, wie eines Tages das Haar der fremdgehenden Ehefrau; Duft nach einem Zuhause, das so fern ist wie eine Geschichte aus Büchern, kaum vorstellbar und wieder vergessen, sobald man nur kurz aus dem Busfenster sieht. (Wahnsinnig vor Stille rast eine Fliege auf der Suche nach einem Menschen durch die verlassenen Räume.)
Später werden sie im Hotelzimmer auf die mitgebrachten Schätze starren wie auf Pflanzen, die während der Reise vertrocknet sind: das zerdrückte Croissant, den Kaffeefleck auf der Zeitung, den Pappbecher aus Köln oder München oder Bielefeld, Orte, von denen dieser Becher als einzige Hinterlassenschaft noch übrig ist, den Archäologen ein Rätsel: Fremder als jedes Mitbringsel aus der Fremde es sein wird.

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Last modified: 06.02.20, 10:44
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Kommentare
Über Straßenbahnfahrten schreiben kann
auch nicht jeder ... (Das heißt. Könnte auch Bus sein.)
Lakritze, vor 8 Jahren
;)
wilhelm peter, vor 8 Jahren
April, April.
Lakritze, vor 8 Jahren
wer weiss
erkennt kalendarische kontexte
wilhelm peter, vor 8 Jahren
Ah, stimmt. Da war
noch eins.
Solminore, vor 8 Jahren
Oh, mehr Baugrubenverse! Schön,
Ihre Distichen.
Lakritze, vor 8 Jahren
grosse gefühle tief gegründet Aus
dem stillen Raume Aus der Erde Grund Hebt sicht wie...
wilhelm peter, vor 8 Jahren
Lesezeichen. Baugrubenlyrik kannte
ich nicht. Mag ich.
Lakritze, vor 8 Jahren
das ist sehr sehr
schön.
don papp, vor 9 Jahren

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